Zum Tag gegen das Vergessen lud das Borusseum am Montagabend bereits zum zehnten Mal in den SIGNAL IDUNA PARK ein. Die 90-jährige Halina Birenbaum war zu Gast und erzählte vor mehr als 500 Personen, wie sie den Holocaust überlebte.
Ein bedächtiger Moment der Stille. Es ist kurz vor acht Uhr abends. Halina Birenbaum betritt den Raum der Nordtribüne im SIGNAL IDUNA PARK. Es wird still, alle Gespräche sind sofort eingestellt. Schnell ertönt der erste Applaus, Birenbaum lächelt, freut sich über diese Ankunft. Sekundenlang hält das Klatschen an der mehr als 500 Personen an. Als es aufhört, erneut totale Stille. Schon da wird deutlich, die Zuhörer des Abends möchten ihr lauschen, hängen an ihren Lippen. Als Birenbaum auf der Bühne ankommt, sich das Mikrofon greift, hört man reihum nichts mehr. Sie hat die totale Aufmerksamkeit des Saals. "Es ist wunderschön hier zu sein", sagt sie mit freudiger Stimme, "75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Es ist ein Wunder, dass ich heute hier stehe mit euch."
Und die 90-Jährige erklärt den Zuhörern warum, erzählt aus Jahren ihres Lebens. Aus Jahren, in denen sie als Jüdin verfolgt worden ist, einen Großteil ihrer Familie verlor, selbst um ihr Leben bangte. Im Polnischen Warschau kam Birenbaum 1929 zur Welt, wuchs nach dem Überfall der Deutschen auf Polen im Warschauer Ghetto auf.
"Wir hatten Todesangst."
"Mir wurde verboten, ein Kind zu sein. Ich lebte mein ganzes Leben mit diesem Schatten der Kindheit", beschreibt sie diese Zeit, die sie ein ganzes Leben lang prägte. Los ging das Grauen als sie zehn Jahre alt war, gerade die zweite Schulklasse beendet hatte. Der Überfall auf Polen fand statt. "Die Deutschen waren frech, selbstsicher", erzählt sie, "wir hatten Todesangst." Ständig hörte sie Leute rufen: "Man braucht die Juden nicht, man soll sie vernichten!" Dauerhaft kam in ihr diese bittere Angst hervor zum Umschlagplatz am Warschauer Ghetto gehen zu müssen. Dem Ort, an dem die Juden für die Deportation in das Vernichtungslager zusammengetrieben wurden.
Birenbaum berichtet hurtig, sie will nichts auslassen. "Ich erzähle schnell, springe durch so viele Sachen." Sechs Jahre ihres Lebens vom Kriegsbeginn 1939 bis zum Kriegsende 1945 will sie wiedergeben. Und während sie die grauenvollen Erinnerungen wiedergibt, gestikuliert sie, lebt es auf der Bühne aus. Doch immer wieder erinnert sie sich auch an die wenigen schönen Dinge aus dieser Zeit, die sie geprägt haben. Sie strahlt dann in ihrem glitzernden Oberteil, trägt den schwarz gelben Schal um ihren Hals, aus dem steht "Borussia verbindet", freut sich an diesem geschichtsträchtigen Tag ihre Erinnerungen teilen zu dürfen. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, immer gute Manieren zu haben, egal wie schlimm die Umstände auch sind. Etwas, was sie geprägt hat, was ihr geblieben ist.
Doch es bleibt vor allem das Grausame: Sie beschreibt die Gerüche, die durch das Warschauer Ghetto zogen. Dieser Geruch des Verbrannten, der Verwesung von all den umgebrachten Menschen, die dann auf der Straße liegen gelassen worden sind, erst Tage später eingesammelt wurden.
Die Bilder, die Birenbaum wiedergibt, klingen barbarisch. An den Anfang der Deportation der Juden aus dem Ghetto in das Vernichtungslager erinnert sie sich ganz genau: "Keine wusste, wohin es geht. Jeder hat die Hoffnung, dass die besten Sachen auf uns warten." Menschen wurden in den Häusern eingesammelt, raus geschleppt. 17.000 Juden jeden Tag. Die Wohnungen in Warschau waren Tag für Tag leerer und leerer. Von Würfelzucker und Wasser ernährte sie sich für mehrere Wochen, sah ihren Vater zu dieser Zeit zum letzten Mal. Mit 47 Jahren wurde er überfallen. Es ist das letzte Bild, was Birenbaum von ihrem Vater blieb. "Schrecklich hat das ausgesehen."
Physische Erinnerungen: Birenbaum zeigt tätowierte Gefangenennummern
Birenbaum musste zum Umschlagspatz, wurde deportiert. Zuerst in das Konzentrationslager Majdanek. "Wir hatten Hoffnung auf ein Bad, Essen, Klamotten. Direkt daneben die Gaskammern, aber das wussten wir nicht." Die Wärter gehen brachial mit ihnen um, schlagen sie, schreien immer wieder "Verfluchte Juden". Wer nicht laufen konnte, weil er zu schwach, krank oder verletzt war, wurde umgebracht.
Es folgte die Verschleppung in das KZ Auschwitz. Mit Hunden und Gewehren peitschen die Offiziere die Gefangenen in die Transporter. "Du konntest gar nichts machen, alles war so eng", erzählt Birenbaum. Sie wurden in die Gaskammern gebracht, alle haben geschrien, alle waren nackt. "Doch das Gas hat in dieser Nacht gefehlt." Die Erinnerungen daran trägt sie bis heute mit sich. Auf den Unterarm hat sie sich ihre Gefangenennummern tätowiert, präsentiert diese dem Publikum. Es schaudert.
Die Bedingungen in dem Konzentrationslager wurden schlimmer, immer mehr Menschen erkranken, bekommen Krätze, Durchfall mit Blut. Tausende sind in den Baracken, es dürfen immer nur 15 auf die Toiletten. Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits ihren Vater und einen ihrer zwei Brüder verloren, auch ihre Mutter ist weg. Birenbaum wird schwächer, am 1. Januar 1945 will sie nicht zur Arbeit. Sie wird vier Mal angeschossen. Der Offizier zielte auf ihr Herz, traf es aber nicht. Drei Schüsse gehen durch den Arm, eine weitere Kugel bleibt in ihrem Körper stecken. Alles war blutgetränkt, Birenbaum überlebte, schaffte nur drei Wochen später den Todesmarsch. Es ging in das KZ Ravensbrück, im Anschluss nach Neustadt-Glewe. Dort sorgte die Rote Armee am 2. Mai 1945 für die Befreiung.
Im Mai 1945 kehrte sie dann nach Warschau zurück, traf dort einen ihrer Brüder wieder, ehe sie 1947 nach Israel emigrierte. "Israel, das ist unser Platz", dachte sie sich zu der Zeit. „Ich danke sehr!“ Es sind die letzten Worte, die Birenbaum vorträgt. Das Publikum dankt es ihr mit minutenlangem Applaus